Herzstück/Todesanzeige von Heiner Müller

Konzeptionelle Überlegungen

Todesanzeige

„Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden, halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf, der Kopf in der Nähe der Tür. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wie allein waren.“
Der Müllertext beginnt mit der einfachen Beschreibung einer Situation: Ein Mann kommt nach Hause und findet seine tote Frau. Jede nachfolgende Satz fügt diesem Bild etwas hinzu, erweitert und verändert es. Dieses Stück-für-Stück-Hinzufügen wurde zum Leitprinzip der Inszenierung. Es ging damit auch um die Offenlegung der eigenen Annäherung und des eigenen Erschließens des Textes. Das Anfangstableau ist das szenische Grundbild, das in den folgenden Sequenzen Stück für Stück ergänzt, weitergeführt, variiert, ausgedeutet und in Frage gestellt wird. Getrennt werden die einzelnen Sequenzen durch Blacks, in denen eine selbst schreibende Schreibmaschine zu hören, am Ende der Inszenierung auch zu sehen ist: Die Tasten und der Schlitten bewegen sich automatisch.
Todesanzeige lässt sich strukturell in vier Teile zerlegen. Trotz seines Beharrens auf der Unumkehrbarkeit der Zeit (und damit einer linearen Entwicklung) zielt der Text auf eine Zirkularität.
1. „Sie war tot, als ich nach Hause kam ...“
Ein Mann inszeniert seine tote Frau als medizinisches Requisit und kompensiert damit, dass er in den früheren Inszenierungen seiner Frau (ihre Selbstmordversuche) von ihr zum passiven Betrachter und damit zum Objekt gemacht wurde.
2. „Mein erster Gedanke an den eigenen Tod ...“
Der psychoanalytische Rückblick in die eigene Kindheit konstruiert die Erfahrung des Ausgestoßenen, der zugleich zum Täter wird: Das Kind ist Opfer und Täter zugleich.
3. „HÜHNERGESICHT ...“
Mit der Doppelgängerfigur wird die Fantasie des Abtötens der eigenen Schwäche ausgelebt: Es ist der Versuch der gezielten Auslagerung der Opferrolle aus der eigenen Identität.
4. „TRAUM ...“
Die fantasierte Ich-Stärkung wird konterkariert durch einen Angsttraum: der Rückfall in die Opferrolle, in das erneute Ausgeliefertsein gegenüber einer starken Frau (das Eingeständnis des Scheiterns).


Herzstück

Die Kiste ist als Gegenstück zum Pullover entstanden − anderthalb Jahre später. Der Pullover war bereits Anfang 2000 für ein Kurzstückefestival entstanden. Die Überraschung damals: der Witz und Spaß (die Klamotte) und das Geschmeidige (alles war fließend). Dass da zwei in einem Pullover gefangen sind, war überhaupt nicht mehr Thema. Deshalb dann die Entscheidung für eine Kiste, wo kein Stoff mehr nachgibt oder sich an den Körper anschmiegt.
Die Herausforderung bestand erneut darin, eine Dramaturgie zu finden (wenn nicht viel passiert, außer Füßen/Beinen nichts zu sehen ist, nur ein minimaler Raum bespielt wird, keine Requisiten benutzt werden).
Die Lösung bestand dieses Mal in einer Steigerungsdramaturgie (von einem Fuß zu vier Füßen, vom unteren Raum in den oberen Raum, von einfachen Anordnungen zu hochkomplexen Verknotungen), einer Rhythmisierung (Holzschlag alle 20 s), in einer immer wieder vorgenommenen überraschenden Umkodierung dessen, als was man die Füße/Beine wahrnimmt (als Puppen, als zu menschlichen Körpern gehörend, als lebendige Gliedmaßen etc.) und in einem fast völligen Verzicht auf Text (nur als Eröffnung und als abschließenden Höhepunkt). Wie schon beim Pullover bewirkte die radikale Reduktion/Konzentration auf sehr wenig einen enormen Gewinn an Möglichkeiten (des Ausdrucks, von Gesten, Poesie, Spielwitz).
Kiste und Pullover (als sehr verschiedene Miniaturen von Beziehungen/Beziehungskämpfen) wurden zum Rahmen für Todesanzeige: die Kiste als sehr ruhiger, fast meditativer Einstieg, der Pullover als heiteres kurzes Nachspiel.