Nikolai Pogodin/Heiner Müller: Aristokraten (DSE)

Konzeptionelle Überlegungen

Inszenatorische Grundidee für Aristokraten war das Filmset: Ein Team junger Leute verfilmt einen für sie historischen Stoff − Aristokraten. Eine solche dramaturgische Konstruktion schien uns notwendig, um Nikolai Pogodins/Heiner Müllers Komödie als historischen Text markieren zu können und zugleich einen Rahmen zu erstellen, in dem das Stück neu lesbar wird. Dies galt umso mehr, als das Thema des Stückes − die Umerziehung von Klassenfeinden in einem stalinistischen Arbeitslager − der heutigen Generation zutiefst fremd erscheint. Dies gilt ungeachtet der Renaissance einer plötzlich wieder attraktiv erscheinenden Denkfigur des Lagers in politischen, philosophischen und ästhetischen Diskursen: das Lager (und Formen der Disziplinierung) als radikalisierter Ausdruck eines Ordnungsbegehrens gegen die als Zumutung empfundene offene und pluralistische Gesellschaft, gegen die scheinbare Dekandenz, Indifferenz und Sinnentleerung der Postmoderne. In der Umerziehungsfantasie des Lagers wird die Angst vor Vielfalt durch die Verabschiedung von Eigenverantwortung und den Wunsch nach einem „starken“ Staat kompensiert, gekoppelt an das Versprechen, den Einzelnen in eine stabile zentralistische Struktur einzufügen und ihn dadurch zu entlasten.
Im Filmset wurde eine zum Lager analoge Situation hergestellt − ein körperlich behinderter Regisseur mit österreichischem Dialekt „zwingt“ seine Schauspieler zu politisch korrektem Verhalten −, um den grotesken Zug dieses Ordnungsversprechens und damit das Komödiantische des Stückes zu entdecken. Beide Zeitschichten sollten in Beziehung zueinander treten können, um Situationen und in ihnen wirkende Mechanismen gegenseitig aufzuhellen: Wo erzählen uns die Filmszenen etwas über unser heutiges Zusammenleben und Zusammenarbeiten? Inwieweit lässt uns ein genauerer Blick auf unser eigenes Agieren die historische, uns letztlich nur noch als Klischee bekannte Epoche neu verstehen? Gibt es Punkte, an denen beide Ebenen für Momente ununterscheidbar werden?
Der originale, szenisch sehr ausufernde Text wurde − unter Maßgabe eines klaren Filmplots mit jeweils nur einem Außen und einem Innenraum − zusammengestrichen auf 23 kurze, prägnante Szenen. Die 38 Rollen wurden reduziert auf zehn Figuren, verteilt auf vier Schauspieler und eine Schauspielerin. Für das Filmset wurden eine Regisseur-Figur sowie die Figur der Hospitantin mit jeweils eigenen Texten entwickelt. Die Figur der Mutter, die am Ende des Filmsets auftaucht, wurde so angelegt, dass sie szenisch beiden Ebenen − Film und Set − zugeordnet werden konnte. Sie wurde bewusst mit einem Mann besetzt, um Eindeutigkeiten der Zuordnung entgegen- und einem Ineinanderfallen der beiden Ebenen zuzuarbeiten. Über die Figur der Mutter wurde zudem ein Korrektiv für den jugendlichen Fortschrittsoptimismus und das Einverständnis in das Umerziehungsprogramm geschaffen.